Vorwort
Paul Gauguin hat im Jahr 1897 in Tahiti ein Bild gemalt, in dem man neben anderen Personen und Figuren rechts einen Säugling, in der Mitte einen Mann im besten Lebensalter und links eine Greisin sieht. Im vorderen Umschlag dieses Buches ist ein linker Bildausschnitt, im hinteren Umschlag ein rechter Bildausschnitt wiedergegeben.
In der linken oberen Ecke des Bildes ist der folgende handgeschriebene Text eingefügt (ohne Fragezeichen):
D’où Venons Nous Que Sommes Nous Où Allons Nous
Gauguin hat selbst erklärt, er habe sich diese Fragen (Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?) vor dem Malen dieses Bildes gestellt. Danach verübte er einen Selbstmordversuch, der allerdings misslang. Ich nehme an, dass er sich bewusst war, dass sein Lebensentwurf gescheitert war: Der Traum vom edlen naturverbundenen Wilden und der entarteten Zivilisation hatte sich als Illusion erwiesen. Das Paradies, das er in seiner Phantasie und in seinen Bildern beschwor, hatte sich am Ende seines Lebens als Hölle erwiesen: Seine Gesundheit war stark angeschlagen, er litt an Geldnot und war in Gerichtsprozesse verstrickt, deren Kosten er nicht bezahlen konnte.
Ob er sein libertinistisches Verhältnis zu Frauen und damit verbunden zu seiner Ehefrau in Europa und zu seinen ehelichen und unehelichen Kindern überdacht oder bereut hat, ist mir nicht bekannt.
Er starb im Jahr 1903 vereinsamt in Tahiti, dem Land seiner Träume, an den Folgen seiner Erkrankung an Syphilis.
Trotz dieses Scheiterns ist es ihm gelungen, die existenzialen Grundfragen aller Menschen in seinem Gemälde meisterhaft zum Ausdruck zu bringen. Gauguin hatte sich zuvor mit philosophischen und religiösen, überwiegend mit esoterischen Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens auseinandergesetzt.
Mit dem Begriff Esoterik bezeichnet man Lehren, die einem begrenzten „inneren“ Personenkreis unerforschte und merkwürdige Dinge zugänglich machen, die nach außen von der allgemein anerkannten Lehre abweichen.
Im weitesten Sinne rechne ich auch religiöses Gedankengut zur Esoterik, soweit es unaufgeklärt und fundamentalistisch ist und sich dadurch gegen jede Kritik abschottet. Dazu gehört auch der Spiritualismus, der neben oder über der realen Welt eine geistige Welt voraussetzt, in der die Geister der Verstorbenen leben und mit denen man in Kontakt treten kann.
Damit überschneidet er sich mit allen dualistischen Theorien, die einen Gegensatz zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen sterblichem materiellem Körper und geistiger unsterblicher Seele vertreten. Im Gegenzug entwickeln positivistische Theorien ein Menschen- und Weltbild, in dem nur das naturwissenschaftlich Nachweisbare Geltung hat.
Ich beantworte in diesem Essay unter anderem auch die Fragen Gauguins: Wer bin ich? Was ist ein Mensch? Was ist über die Eltern hinaus die tiefere Ursache meiner Existenz? Woher komme ich? Welche Ziele will ich in meinem Leben verwirklichen? Gibt es ein Leben nach dem Tode: Wohin gehe ich?
Aber ich möchte die Antworten nicht den Esoterikern, den Dualisten und den Positivisten überlassen, die sich in Suchanfragen im Internet zurzeit stark in den Vordergrund drängen, deren Positionen ich ablehne und von denen ich mich abgrenzen möchte.
Die im Titel genannten „existenzialen Grundfragen“ sollte man nicht mit existenziellen Fragen verwechseln, die auf die Voraussetzungen für das körperliche Existieren oder auf die finanzielle und materielle Existenz-Sicherung bezogen sind.
Was existenzial im Unterschied dazu bedeutet, wird in der folgenden Überlegung deutlich: Im Gegensatz zum Tier hat der Mensch kein vorgegebenes Lebensziel. Einerseits ist er ins Dasein geworfen, d. h. er kann nicht bestimmen, wer seine Eltern sind, welches Geschlecht er hat, in welcher Zeit und in welchem Land er geboren wird, und vieles mehr.
Andererseits ist er dem Geworfensein nicht völlig hilflos ausgeliefert; er kann damit umgehen und seinen eigenen Lebensentwurf – innerhalb der vorgegebenen Grenzen — dagegensetzen.
Jeder Lebensentwurf, d. h. wie jemand sein Leben gestalten will und welche Ziele er bis zum Lebensende anstrebt, setzt Antworten auf grundsätzliche Fragen voraus. Insofern haben die Elemente des Lebensentwurfs eine existenziale Bedeutung.
Existenziale Fragen sind mit dem Wanderer an einer Wegscheide vergleichbar, der zwischen irreführenden und zielführenden Wegen unterscheiden muss. Ich werde in neun Kapiteln (Fragen) solche Entscheidungspunkte aufzeigen. Die Unterkapitel behandeln damit zusammenhängende Fragen, vor allem aber werden mögliche Antworten gegeben, die man dem Vergleich folgend auch als mögliche Wege bezeichnen kann.
Im Kommentar zu häufig begangenen Wegen werden die Entscheidungen bewertet, wodurch mein Standpunkt bereits angedeutet wird, der in der letzten Antwort der Unterkapitel zusammengefasst ist.
Ich maße mir nicht an, ein für alle Mal und für alle Menschen existenziale Entscheidungen zu bewerten. Daher möchte ich betonen, dass es sich hier um eine komprimierte Fassung meines Menschen-, Welt- und Gottesbildes handelt, das ich in mehreren Büchern ausführlich dargestellt habe. Daraus habe ich die Fragen und Antworten aufgegriffen. Insofern handelt es sich hier um meine subjektive Sicht der Welt, was mit Recht bei jedem autonom denkenden Menschen eine Distanzierung provoziert.
Dennoch möchte ich aus zwei Gründen meine Leser dazu einladen, meiner Problemstellung und Wegführung zu folgen:
1. Der Leser sollte sein eigenes Menschen-, Welt- und Gottesbild mit dem meinen vergleichen. Auch die Erkenntnis von Schwächen meiner Theorien und der Überlegenheit der eigenen Theorien des Lesers kann fruchtbar sein, vorausgesetzt, dass mein Standpunkt nicht als außerhalb einer sinnvollen Diskussion eingeordnet wird.
2. Auf Grund meiner zahlreichen Auseinandersetzungen mit Theorien der abendländischen Geistesgeschichte sowohl in der Fragestellung als auch in der Antwort gehe ich davon aus, dass mein Gedankensystem überindividuelle Aspekte enthält.
Zunächst erörtere ich in möglichst einfacher Gedankenführung und Sprache neun Grundfragen, die eine Entscheidung für einen der möglichen Wege zur Beantwortung erfordern, falls man keine Lücken im eigenen Weltbild akzeptiert. Während ich in meinen Büchern zunächst die Theorien von Philosophen, Theologen oder Psychologen untersuche und dann meine eigene Theorie darauf aufbaue, verzichte ich hier – so weit wie möglich – auf einen geistesgeschichtlichen Vergleich meiner Positionen.
In den Exkursen im Anhang ist es jedoch unvermeidbar, eine Differenzierung teilweise bis in kleinste Einzelfragen durchzuführen und die Kritik an Grundpositionen der wichtigsten Theorien mit Quellenangaben zu belegen.
Vor allem im Exkurs 2 über die Freiheit, die von vielen heutigen Neurologen bezweifelt wird, und im Exkurs 3 über das Gehirn werde ich den mehr oder weniger verdeckten Reduktionismus ihrer Lehren auf das naturwissenschaftlich Nachweisbare aufzeigen und meine Alternative zu einer Erklärung von Freiheit, Geist und Seele vorlegen, die von der Grundlage der Evolutionslehre und der Erforschung des Gehirns ausgeht, ohne in Reduktionismus und Funktionalismus abzugleiten.
weniger anzeigen