Anne Pfeil
Leerstand nutzen
Perspektivenwechsel im Umgang mit dem strukturellen Wohnungsleerstand in ostdeutschen Gründerzeitgebieten
Veröffentlicht: November 2014, Band 64. Einband: Broschur. Zahlreiche Tabellen und Abbildungen, 12 davon farbig. 392 Seiten. Format 168 x 240. ISBN 978-3-944101-64-4. Preis: 42,80 Euro.
Band 64 der Reihe "IÖR Schriften", herausgegeben vom Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung e. V. (IÖR) Direktor: Prof. Dr. Dr. h. c. Bernhard Müller, Weberplatz 1, 01217 Dresden Tel.: (0351) 4679-0, Fax.: (0351) 4679-212 eMail: info@ioer.de, Homepage: http://www.ioer.de
Herausgeber
Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung e. V. (IÖR)
Direktor: Prof. Dr. Dr. h. c. Bernhard Müller
Weberplatz 1
01217 Dresden
Tel.: (0351) 4679-0
Fax: (0351) 4679-212
E-Mail: info@ioer.de
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Zugleich Dissertation zur Erlangung des Doktors der Ingenieurwissenschaften (Dr.-Ing.) an der Fakultät Architektur der Technischen Universität Dresden. Vorgelegt von Dipl.-Ing. Dipl.-Biol. Anne Pfeil.
Gutachter
Prof. Dr. Dr. h. c. Bernhard Müller
Technische Universität Dresden/Fakultät Forst-, Geo- und Hydrowissenschaften, Fachrichtung Geowissenschaften/Lehrstuhl Raumentwicklung
Prof. Dr.-Ing. Jürg Sulzer
Technische Universität Dresden/Fakultät Architektur/Professur für Stadtumbau und Stadtforschung, Görlitz Kompetenzzentrum Revitalisierender Städtebau
Trotz unterschiedlich ausgerichteter Städtebauförderprogramme nach 1989 ist in vielen ostdeutschen Mittelstädten nach wie vor ein überdurchschnittlicher struktureller Wohnungsleerstand in Wohnquartieren aus der Gründerzeit anzutreffen. Tritt die prognostizierte Bevölkerungsentwicklung ein, wird der aus heutiger Sicht erhöhte Wohnungsleerstand für die nächsten 15-20 Jahre ein dauerhaftes Phänomen bleiben. Dies wirft die Frage nach dem möglichen Nutzen des Leerstands in ostdeutschen Gründerzeitquartieren auf. Ihr geht die Autorin nach und vollzieht einen Perspektivenwechsel, indem sie die von 1990 bis 2010 in der Städtebauförderung und Praxis verfolgten Strategien im Umgang mit dem Wohnungsleerstand aufzeigt, dessen Auswirkungen auf die Wohnqualität aus Sicht der Bürger am Beispiel der sächsischen Stadt Görlitz untersucht und neue Lösungsansätze im Umgang mit dem Wohnungsleerstand in Gründerzeitquartieren ableitet.
Use of Emptiness. Changing perspective when dealing with vacancies in Wilhelminian buildings in East Germany. Despite numerous urban development programmes during the last 20 years, many problems remain unsolved in East German cities. Action is especially urgent in middlesized cities in Saxony. These cities are characterized by above-average housing vacancy rates in old residential districts constructed during the industrialisation in the 19th century: Wilhelminian housing stock. In contrast to strategies to reduce vacancies, the thesis focuses on the possible ‚use of emptiness‘. It draws on a review of the literature, document analysis, and empirical data. The empirical data was gathered in semistructured interviews and a survey. The finding in an old residential district of Görlitz (Saxony) highlight that under specific conditions the maintenance of vacant buildings can be beneficial for urban neighbourhoods. On the basis of the findings, practical recommendations are offered on dealing with vacancies in Wilhelminian residential areas in East Germany. Given the expected further decline in population over the coming 10 to 15 years, the research results are highly relevant for middlesized cities in East Germany.
Die Autorin
Dr.-Ing. Anne Pfeil
Nach dem Biologiestudium an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn Architekturstudium an der Technischen Universität Berlin. Nach verschiedenen Tätigkeiten in Planungs- und Architekturbüros in Berlin wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hannover und an der Technischen Universität Dresden. Promotion im Rahmen der Dresden Leibniz Graduate School (DLGS) an der Technischen Universität Dresden. Heute Stellvertretende Stadtarchitektin in der Stadt Zug (Schweiz).
VORWORT
Noch zu Beginn des Jahrtausends dominierten in der Regel die kommunalen Wohnungsunternehmen und -genossenschaften die Diskussion über Strategien und Ziele zur Beseitigung des Wohnungsleerstands in den ostdeutschen Bundesländern. Die Stadtgestaltung und die Anliegen des städtebaulichen Denkmalschutzes wurden in der damaligen politischen und fachlichen Debatte in Ostdeutschland wenig reflektiert. Die bestandserhaltende Entwicklung der gründerzeitlichen Stadtensembles fand im vorherrschenden „Stadtumbauklima“ insbesondere im Freistaat Sachsen kaum Beachtung. Forderungen nach einer sorgfältigen Stadtumbaupolitik wurden mehrheitlich als rückwärtsgewandt, naiv und finanziell nicht tragbar abgetan. So war es nur folgerichtig, dass der schweizerische Außenblick von Prof. Jürg Sulzer und die Ausrichtung seiner Forschungsprojekte zum Stadtumbau auf eine ganzheitliche Qualitätssicherung von Stadtquartieren und Stadträumen eine klare Gegenposition zur vorherrschenden Stadtentwicklungspolitik darstellten. Es war eine spannende Herausforderung für sein junges Mitarbeiter-Team, mit ihm gemeinsam, bildlich gesprochen, „gegen den Strom“ der sich damals eindeutig in der Überzahl befindenden Vertreter der „schrumpfenden Stadt“ und des ideenlosen „Umgangs mit der Leere“ zu schwimmen.
Gleichzeitig zeigte sich mit der Umsetzung des Programms Stadtumbau Ost, dass die erwarteten positiven Effekte in historischen Innenstadtgebieten ausblieben. Hier setzte meine Doktorarbeit an, mit der ich gedanklich einen Perspektivenwechsel vollzog, indem ich den Wohnungsleerstand als dauerhaft auftretendes Phänomen akzeptierte. Dabei waren die Erkenntnisse aus dem am Görlitz Kompetenzzentrum Revitalisierender Städtebau (Kompetenzzentrum) initiierten Projekt Probewohnen in der Stadt Görlitz aus zwei Gründen wegweisend: Zum einen, weil es die Sichtweise der Menschen fokussierte, denn ohne die Bürgerinnen und Bürger lassen sich auf lange Sicht die Gründerzeitquartiere in ostdeutschen Mittelstädten nicht erhalten. Es braucht eine hohe Wohnqualität und erfolgreiche Kommunikationsstrategien, um den Menschen die Vorteile des Wohnens in den Innenstädten gegenüber dem Wohnen in den großen Neubauarealen am Stadtrand und in den Einfamilienhausgebieten im Umland zu vermitteln. Zum anderen gab das Projekt Probewohnen erste Antworten auf die Frage, wie gründerzeitliche Stadtensembles in ostdeutschen Städten zukünftig zu attraktiven Wohngebieten mit einer hohen Wohnqualität trotz Wohnungsleerstands (bzw. leer stehender Gebäude) entwickelt werden könnten.
Inzwischen hat die Stadtumbaudebatte an Emotionalität verloren und ist deutlich differenzierter geworden. Spätestens mit der Verabschiedung der „Leipzig Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt“ (2007) konzentriert sich der Diskurs wieder stärker auf die Ziele einer ganzheitlichen, integrierten Stadtentwicklung. Der vom Kompetenzzentrum frühzeitig eingeforderte Paradigmenwechsel, von der einseitig ausgerichteten „schrumpfenden Stadtentwicklung“ zum ganzheitlich Umgang mit dem städtebaulichen Erbe, insbesondere den Gründerzeitquartieren, ist eingetreten. Dieser Kurswechsel zur behutsamen Stadtumbaupolitik hat auch das Problembewusstsein in den kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungsunternehmen geschärft. Fragen des städtebaulichen Denkmalschutzes und der ganzheitlich ausgerichteten Stadtgestaltung haben folglich deutlich an Gewicht gewonnen. Die ursprünglichen Pläne zur großflächigen Beseitigung gründerzeitlicher Stadtquartiere werden heute, auch dank der modifizierten Förderpolitik des Bundes, kaum noch weiter verfolgt. Gleichwohl stellt sich bis heute immer wieder die Frage, wie die Erhaltung bedeutender gründerzeitlicher Stadtensembles in ostdeutschen Innenstädten, trotz des hohen Leerstands, mit den ökonomischen Kriterien in Übereinstimmung gebracht werden kann. Insofern ist die von mir bearbeitete Fragestellung weiterhin aktuell.
Ziel meiner Doktorarbeit war es, eine tragfähige Argumentation für einen ganzheitlich ausgerichteten, behutsamen Stadtumbau zu erarbeiten und so die dominierende ökonomische Sichtweise im Stadtumbau Ost zu ergänzen. In der Dresden Leibniz Graduate School (DLGS), unter der Leitung von Prof. Bernhard Müller, fand ich die idealen Voraussetzungen, meinem Forschungsinteresse auf hohem wissenschaftlichem Niveau nachzugehen und einer kritischen Prüfung zu unterziehen.
Anne Pfeil, 18. Juni 2014
Zusammenfassung
Ostdeutsche Innenstädte sind zum Zeitpunkt der politischen Wende von großen baulichen und funktionalen Defiziten und einem hohen Wohnungsleerstand betroffen. Ursache hierfür ist die jahrzehntelange Vernachlässigung aus ideologischen und wirtschaftlichen Gründen in der DDR-Zeit. Mit der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten beginnt die Sicherung, Instandsetzung und Modernisierung der historischen Stadtkerne. Trotz umfangreicher Maßnahmen – insbesondere im Rahmen des Städtebauförderprogramms Städtebaulicher Denkmalschutz – stellt sich jedoch keine dem Angebot entsprechende Nachfrage nach dem Wohnen in den Innenstädten ein. Im Jahr 2000 wird der strukturelle Wohnungsleerstand schließlich als ein spezifisches Problem des ostdeutschen Wohnungsmarkts identifiziert und es beginnt ein bis heute andauernder Prozess der Lösungssuche. Bund und Länder reagieren u. a. mit dem auf die Leerstandsproblematik zugeschnittenen Städtebauförderprogramm Stadtumbau Ost. Insgesamt bleibt der Wohnungsleerstand in den ostdeutschen Innenstädten – im Vergleich zu Wohnungsmärkten mit einer stabilen oder wachsenden Nachfrage – dennoch überdurchschnittlich hoch. Die eingesetzten Instrumente in den Programmen Städtebaulicher Denkmalschutz und Stadtumbau Ost erweisen sich somit nur bedingt als geeignet, um die Probleme in den Innenstädten zu lösen. Im Ergebnis verändern sich nicht nur die Schwerpunkte, sondern auch die Problemsicht (Problemverständnis und Zielvorstellung) in der Städtebauförderung.
Vor diesem Hintergrund und angesichts der prognostizierten Bevölkerungsentwicklung ist zu erwarten, dass der strukturelle Wohnungsleerstand in den nächsten 15 bis 20 Jahren ein dauerhaftes Phänomen in ostdeutschen Innenstädten bleiben wird. Dies gilt im besonderen Maße für sogenannte „einfache” Gründerzeitgebiete, die ursprünglich als Arbeiterwohngebiete an weniger attraktiven Standorten in den Städten entstanden. Wenn unter diesen Bedingungen die Wohn- und Lebensqualität aufrecht und das baukulturelle Erbe gründerzeitlicher Stadtensembles erhalten werden sollen, sind weitere Lösungsstrategien im Umgang mit dem Wohnungsleerstand erforderlich. Hier setzt die Arbeit an und vollzieht einen Perspektivenwechsel, indem sie die forschungsleitende Frage nach dem möglichen Nutzen des Leerstands für die zukünftige Entwicklung historisch gewachsener ostdeutscher Innenstadtgebiete stellt. Dies erfordert eine kritische Auseinandersetzung mit den wichtigsten verwendeten Begriffen. Die Untersuchung dieser Frage erfolgt mit vier Schwerpunkten:
? * Erstens werden die wichtigsten Begriffe hinsichtlich ihrer Bedeutung im allgemeinen Sprachgebrauch und im Kontext der Stadtplanung und des Städtebaus näher untersucht und für die weitere Verwendung in der Arbeit definiert. Im Einzelnen handelt es sich um die Begriffe Leerstand und Leere, Nutzung und Nutzen, Problem und Problemlösen sowie Perspektive und Perspektivenwechsel.
? * Zweitens werden die Entwicklung des Wohnungsleerstands in ostdeutschen Innenstädten (Problemgenese) und die Lösungsansätze im Umgang mit diesem für die ersten zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung 1989 aufgezeigt. Dem Zusammenhang zwischen Problemverständnis und Lösungsansatz (Problemraum) wird hierbei besondere Bedeutung beigemessen. Hierzu wird die einschlägige Fachliteratur, insbesondere im Zusammenhang
mit den beiden „lernenden” Programmen Städtebaulicher Denkmalschutz und Stadtumbau Ost, ausgewertet.
? * Drittens wird der Erkenntnisgewinn, der mit einer probeweisen Nutzung leer stehender Wohnungen im Rahmen eines Projektes verbunden sein kann, in einer Fallstudie in der Stadt Görlitz (Sachsen) untersucht. Mit dem hier erstmals umgesetzten Projekt Probewohnen wird das Ziel verfolgt, den Wohnungsleerstand als „Stätte des Lernens” zu begreifen, um ein neues Instrument in der Stadtentwicklung zu erproben. Zu ihren Erfahrungen werden sowohl die am Projekt beteiligten Fachleute als auch die teilnehmenden Personen in Interviews bzw. über Fragebögen befragt.
? * Viertens ist die Fallstudie besonders geeignet, um die räumlichen und funktionalen Auswirkungen des Wohnungsleerstands zu untersuchen. Das Projekt Probewohnen ist im Stadtteil
„Innenstadt”, dem Görlitzer Stadtteil mit dem höchsten Wohnungsleerstand, lokalisiert. Es ermöglicht den Teilnehmern eine probeweise und zeitweise Verlegung ihres Wohnortes in diesen Stadtteil. Erfasst werden die Sicht der Projektteilnehmer auf die Wohnqualität im untersuchten Gründerzeitgebiet und die städtebaulichen Auswirkungen des Wohnungsleerstands.
Der theoretische Teil der Arbeit zeigt die problemorientierte Ausdifferenzierung der Städtebauförderung in den Programmen Städtebaulicher Denkmalschutz und Stadtumbau Ost. Auf Probleme und unerwartete Entwicklungen bei der Programmumsetzung wurde erfolgreich reagiert, im Stadtumbau Ost vor allem mit Programmmodifikationen, im Städtebaulichen Denkmalschutz mit Schwerpunktverlagerungen. Trotz umfangreicher öffentlicher und privater Investitionen und großer Sanierungsfortschritte, ist das Problem „struktureller Wohnungsleerstand“ in Innenstadtgebieten nach wie vor ungelöst. Der Leerstand ist zu einem neuen städtischen Strukturelement geworden. Die Ergebnisse zeigen das Erfordernis auf, neue Instrumente und Vorgehensweisen in der weiteren Entwicklung ostdeutscher Innenstädte bereit zu stellen.
Die Ergebnisse der Fallstudie zeigen einerseits, dass in zeitlich begrenzten Projekten neue Vorgehensweisen in der Stadtentwicklung „erprobt” werden können. Dabei können Projekte auch über ihre Laufzeit hinaus eine nachhaltige Wirkung entfalten. Die projektbasierte Zusammenarbeit begünstigt die Bildung neuer und die Festigung bestehender institutionsübergreifender Partnerschaften. Andererseits wird in der Fallstudie nachgewiesen, dass sich über eine projektbezogene Nutzung des Leerstands (leer stehender Wohnungen) ein Erkenntnisgewinn bei den Beteiligten einstellt. Die Fachleute erwerben über eine projektbasierte Arbeitsweise handlungsrelevantes Erfahrungswissen in Abhängigkeit von der Intensität ihrer Beteiligung. Dieses reicht von Fachkenntnissen in der Stadtplanung über ein projektbezogenes Praxiswissen bis zu Erkenntnissen über die vielfältigen persönlichen Wohnvorstellungen in der Bevölkerung. Den Projektteilnehmern werden mit der Projektteilnahme die Zusammenhänge von persönlicher Alltagsgestaltung und Wohnort vermittelt und sie werden für die Qualitäten des Wohnorts Innenstadt sensibilisiert. Dies kann zur Reduzierung von Vorbehalten gegenüber dem Wohnen in einem gründerzeitlichen Wohngebiet beitragen. Darüber hinaus bewährt sich die Projektteilnahme bei Personen mit Umzugsplänen als Entscheidungshilfe für oder gegen einen
Umzug in die Innenstadt. In der Fallstudie wird darüber hinaus der Einfluss des Wohnungsleerstands auf die, aus Sicht der Projektteilnehmer vorhandene Wohnumfeldqualität im Quartier deutlich. Hier stellt der Wohnungsleerstand im Unterschied zum baulichen Zustand der Gebäude kein prioritäres Kriterium bei der Bewertung des Wohnumfeldes dar. Die Fallstudie in Görlitz zeigt, dass Gebäude, unabhängig vom Grad ihrer Nutzung, zum Stadtbild und zur Geschlossenheit der Bebauung im Quartier beitragen können. Das Wohngebiet mit dem höchsten Wohnungsleerstand in der Stadt erhält insgesamt eine positive Gesamtbewertung, trotz standortabhängiger Bewertungsdifferenzen und individueller Bewertungsmuster.
Aus den vorgelegten Ergebnissen lässt sich ein wissengenerierender und raumkonstituierender Nutzen (teilweise oder vollständig) leer stehender Gebäude in ostdeutschen Innenstädten ableiten. Aufbauend auf diesem wird ein weiter gefasster, gesellschaftlicher Nutzen des Leerstands aufgezeigt, der neben sozialen und ökologischen durchaus auch ökonomische Kriterien einschließt. Auf dieser Grundlage werden für den Umgang mit dem Leerstand in Innenstädten die folgenden fünf Handlungsfelder identifiziert:
1. Probeweise Vorgehen: Angesichts der Schwierigkeiten bei der Vorhersage der jeweiligen Leerstandsentwicklung innerhalb einer Stadt, bietet sich ein auf die ortsspezifischen Rahmenbedingungen zugeschnittenes probeweises Vorgehen an. Dies ermöglicht schrittweise neue Strategien zu entwickeln, zu erproben und zu optimieren. Hierin liegen bislang ungenutzte Chancen für den Aufbau neuer Partnerschaften, für eine Bürgerbeteiligung „auf Augenhöhe” und für einen erfahrungsbasierten Wissenserwerb zugunsten einer nachhaltigen Innenentwicklung der Städte. Über ein probeweises Vorgehen können einerseits Fachleute für die Belange der Bürger sensibilisiert werden und andererseits die Bürger in ihrer Rolle als „Experten” für ihre Wohnbedürfnisse für eine verantwortungsvolle Beteiligung qualifiziert werden.
2. Neues Nutzungsverständnis entwickeln: Es zeichnet sich das Erfordernis eines erweiterten, neuen Nutzungsverständnisses ab, um ortsspezifische Antworten auf Fragen nach einem angemessenen Verhältnis von Einwohnerdichte, baulicher Dichte und sozialer Dichte zu geben. Nutzung ist stärker als ein dynamischer Prozess von Nutzungsänderungen und von sich abwechselnden Phasen des Benutzens und des Nicht-Nutzens zu begreifen. Der Nutzen leer stehender Gebäude ist in Zukunft nicht allein an der konkreten Gebäudenutzung, sondern stärker an einem ganzheitlichen stadträumlichen und gesellschaftlichen Nutzen festzumachen.
3. Leerstand lenken und gestalten: Erkennt man den Wohnungsleerstand als ein charakteristisches Strukturelement in den Innenstädten an, werden neue Instrumente erforderlich, um die Wohnqualität in den Innenstädten selbst bei einer geringeren Einwohnerdichte zu gewährleisten: Die räumliche Verteilung des Leerstands ist zu lenken und sein Erscheinungsbild im Stadtraum ist zu gestalten. Hieraus ergeben sich baukulturelle Gestaltungsansprüche im Umgang mit dem Leerstand. Der raumbildenden und der stadtbildprägenden Wirkung leer stehender Gebäude kommt in Abhängigkeit davon, wie sie aufgrund ihres baulichen Zustands und äußeren Erscheinungsbildes, ihrer Lage und ihres städtebaulichen Kontexts wahrgenommen werden, eine besondere Bedeutung zu.
4. Denken im Ensemble: Die Geschlossenheit und Originalität des historischen Stadtensembles in seiner jeweiligen lokalen Ausprägung tragen zur unverwechselbaren Identität einer Stadt bei. Will man eine positive Gesamtwirkung erzielen und so günstige Voraussetzungen für die Nachfrage seitens der Bürger und für ihre Identifikation mit der Stadt schaffen, sind die baukulturellen Gestaltungsansprüche hoch anzusetzen. Es erfordert ein Denken im Ensemble, um bei der schrittweisen Modernisierung ein Gleichgewicht zwischen unterschiedlichen Gebrauchszuständen in einem Stadtteil, einem Straßenzug oder an einem Platz herzustellen.
5. Perspektivenwechsel wagen: Der vollzogene Perspektivenwechsel erweist sich als tauglich, um zu neuen Lösungsansätzen in der ostdeutschen Stadtentwicklung zu kommen. Insofern ist ein Perspektivenwechsel als eine besondere Form des methodischen Vorgehens im Umgang mit ungelösten Problemen in der Stadtentwicklung über das Projekt Probewohnen hinaus empfehlenswert. Vor dem Hintergrund der zu erwartenden wirtschaftlichen Entwicklung, bei der mit einer zusätzlichen Einschränkung der Handlungsspielräume zu rechnen ist, ist ein umfassender Umbau der bestehenden Stadt weder zu leisten, noch ist er sinnvoll. Stattdessen sind Perspektivenwechsel zu wagen, um in einem schrittweisen Vorgehen neue Lösungswege für die Erhaltung der Innenstädte zu entwickeln.
Insgesamt weisen die Ergebnisse darauf hin, dass die Grenzen zwischen städtebaulichem Denkmalschutz und Stadtumbau zukünftig fließender zu gestalten sind – im Sinne eines stadtgestaltenden städtebaulichen Denkmalschutzes oder stadterhaltenden stadtbildpflegenden Stadtumbaus. Dann würden leer stehende Gebäude zum Baustein einer gestalterischen Nachhaltigkeit, welche sich die über viele Generationen verfeinerten Gestaltungskriterien zu eigen macht.